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Ein neuer Wunderwerkstoff ist dabei, die IT-Branche zu revolutionieren. Graphen soll mit seinen Eigenschaften ähnlich tiefgreifende Folgen nach sich ziehen wie seinerzeit die Verarbeitung von Silizium.

Zieht man einen Klebestreifen schnell von einem Stück Graphit ab, drückt den Streifen auf eine neue Oberfläche und zieht ihn erneut ruckartig ab, bleibt eine nur wenige Nanometer dünne Partikelschicht zurück. Unter dem Rastertunnelmikroskop sieht die Fläche aus wie ein aus einzelnen Sechsecken bestehende Honigwabe. Doch mit diesen Waben wird kein Honig produziert, sondern die Technologie von morgen.

Neue Prozessoren, Displays und Akkus

Mit der Entwicklung von siliziumbasierten Transistoren begann in den 1950er Jahren der Siegeszug der Computerelektronik. Zum Vergleich: Ein Smartphone hat heutzutage deutlich mehr Rechenleistung als das Computer-Cluster der Apollo Guidance Computer, mit deren Hilfe die Mondlandung 1969 durchgeführt wurde. Doch die siliziumbasierten Prozessoren, die nach dem Mooreschen Gesetz ihre Rechenleistung bei gleicher Fläche alle 12 bis 24 Monate verdoppeln, werden schon bald an ihre Grenzen stoßen. Mit Graphen (Aussprache: gʁa’feːn) steht aber bereits ein Nachfolger bereit, der tausendfach schnellere Prozessoren ermöglichen würde.

Der Wunderwerkstoff Graphen ist mit der Dicke eines Atoms nicht nur superdünn, sondern auch gut einhundertmal leitfähiger als Silizium. Diese Eigenschaften machen graphenbasierte Prozessoren extrem energiesparend, und auch die mobile Stromversorgung könnte durch Graphen einen neuen Schub bekommen. Experten rechnen damit, dass Akkus gebaut werden können, die nach einer Ladezeit von 15 Minuten rund eine Woche halten. Ein drittes Einsatzgebiet für den Wunderstoff wären Smartphone-Displays. Denn das durchsichtige Graphen ist zwar härter als ein Diamant, gleichzeitig aber biegsam und dehnbar wie Gummi. Die hohe Leitfähigkeit würde außerdem zu einer feineren Steuerung von Smartphone-Displays führen. Möglich wären sogar komplett durchsichtige, biegsame Smartphones, wie das Konzept des Nokia Morph zeigt.

Die Biegsamkeit des Materials könnte aber auch andere Anwendungsbereiche erlauben, beispielsweise Kleidung. Ob Laufschuhe mit Geschwindigkeitsmesser, Ski mit Feuchtigkeitssensoren, die matschigen Schnee erkennen, Regenjacken, die nie nass werden, oder smarte Brillen wie Google Glass, jedoch in deutlich kompakterer Bauform. Auch graphenbasierte Schutzkleidung für Labore oder Rettungskräfte ist aufgrund der ausgezeichneten Hitzeableitungseigenschaften denkbar.

Durchbruch in der Produktion

Das bisher größte Problem bei der Verwendung von Graphen war die Herstellung. Denn so verblüffend einfach, wie der Trick mit Klebestreifen ist, so wenig ist diese Methode für die industrielle Produktion geeignet. Doch der mechanische Prozess könnte schon bald durch eine chemisch-mechanische Alternative abgelöst werden, die Wissenschaftler an der Universität Dublin entdeckt haben. Dabei wird Graphit mit einer stabilisierenden Flüssigkeit in eine Art Mixer gegeben, der dann wiederum dünne Graphen-Lagen vom Grundstoff abkratzt. Eine Alternative ist die Auflösung von Graphit in seine Einzelteile und dem anschließenden „Druck“ der Graphit-Lösung auf Kunststoff. Allerdings ist Graphen nicht der einzige vielversprechende Stoff der Zukunft. Vor allem die Nanotechnologie kann als starker Konkurrent genannt werden.

Doch Graphen hat einen entscheidenden Vorteil: Die Forschung am Wunderstoff wird massiv gefördert. So unterhält die Europäische Union mit dem Graphene Flagship ein eine Milliarde Euro schweres Förderprogramm, an dem unter anderem der Staubsauger-Hersteller Dyson und auch Siemens beteiligt sind. In Großbritannien wurde erst kürzlich für umgerechnet 75 Millionen Euro das National Graphene Institute gegründet. Dass auch die Wirtschaft in Graphen so etwas wie den Heilsbringer des 21. Jahrhunderts sieht, zeigen die Patentanmeldungen. Mehr als 10.000 Entwicklungen haben sich die Unternehmen weltweit bereits schützen lassen, darunter auch die Mobilfunkriesen Samsung und Apple.

Ist Graphen der Umweltverschmutzer der Zukunft?

Die Eigenschaften von Graphen sowie die Durchbrüche bei der industriellen Produktion lassen auf einen baldigen Einsatz des Materials deuten. Doch während die ersten Verbraucher bereits auf die Smartphones von Morgen warten, warnen Wissenschaftler der Universität von Kalifornien vor den möglichen Konsequenzen der großangelegten Produktion. Bei Graphen sei man derzeit auf dem gleichen Stand wie bei Chemikalien und Pharmazieprodukten von vor 30 Jahren; die Folgen auf die Umwelt sind derzeit nur schwer einzuschätzen.

Zwar zersetzt Graphen sich nicht in weichem Oberflächenwasser. Gelangen die feinen Partikel aber über das Wasser in den menschlichen Körper, befürchten Kritiker katastrophale Folgen für die Körperzellen. Denn dort könnten bei einem Zerfall winzige, scharfkantige Einzelteile entstehen, die einen gefährlichen Effekt auf einzelne Zellen haben könnten – und der sich auch in anderen Bioorganismen. Für eine mögliche Anwendungen im medizinischen Bereich sollte Graphen daher noch vor dem Großeinsatz auf seine Verträglichkeit überprüft werden, so Robert Hurt, Ingenieursprofessor an der Brown University.