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Jaron Lanier wird gerne als Internetpionier bezeichnet und gilt als Vater des Begriffs „Virtuelle Realität“. Erst vor zwei Jahren wurde der gebürtige New Yorker mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. An diesem Donnerstag trat Lanier als Keynote-Speaker beim Landeskongress shareBW im ZKM in Karlsruhe auf – und zeichnete ein kritisches Bild unserer digitalen Gesellschaft.

Dreadlocks, Schlabber-Hose und Sandalen – so betritt Jaron Lanier am Donnerstagnachmittags die Bühne des ZKM. In seiner gewohnt lockeren Art fasst der 56-Jährige seinen bisherigen Werdegang in wenigen Worten zusammen: „Ich habe gerade nicht verstanden, wie mich der Moderator auf Deutsch angekündigt hat, aber man kann sagen, dass ich schon eine ganze Weile mit digitalen Technologien zu tun habe.“ So lange, dass ihn nach eigenen Aussagen schon im Jahr 2000 bei einer Vorlesung in Stanford eine Studentin fragte: „Was, Sie sind Jaron Lanier, Sie leben noch?“.

“Insbesondere die Menschen in den ärmsten Ländern der Welt haben vom technologischen Fortschritt profitiert“

Ja, er lebt noch – und er hat viel über das Internet und die Digitalisierung zu sagen. „Wenn Sie Wissenschaftler oder Ingenieur sind, ist es Ihre oberste Pflicht, sich die Ergebnisse Ihrer Arbeit anzuschauen. Damals, noch bevor das Internet Internet hieß, hatten wir alle die Hoffnung, dass eine offenere Welt, in der jeder Zugriff auf Daten hat, eine bessere Welt sein wird. Mit mehr Wohlstand für alle.“

Heute muss Lanier einsehen, dass viele seiner Hoffnungen von damals enttäuscht wurden. Aber nicht alle. „Ich glaube, dass der technologische Fortschritt vielen Menschen in den ärmsten Ländern der Welt dabei geholfen hat, ihre Lage zu verbessern. Allein was in diesen Ländern inzwischen durch die Verfügbarkeit von günstigen Telefonen möglich ist, ist bemerkenswert. Das ist einer der großen Erfolge unserer Generation.“

Weiterhin hätten die digitalen Technologien auch dazu geführt, dass viele kleine Firmen gegründet werden – nicht zu vergessen die Kultur, die aus all dem entstanden ist. „Eine Kultur, die Spaß macht! Es gibt vieles an dem zu lieben, was wir geschaffen haben!“

“Es sollte alles besser werden, aber das wird es nicht“

Aber es gibt auch viele Aspekte der Digitalisierung, die Jaron Lanier Sorgen bereiten: „In den meisten Industrieländern ging der Aufstieg digitaler Netzwerke einher mit der Zunahme ökonomischer Unsicherheiten. Einst träumten wir davon, dass das Internet die Welt zu einem offeneren, demokratischeren Ort macht, an dem wir unser Wissen teilen. Alles sollte besser werden, aber das wird es nicht. Jeder hat heute Zugriff auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten – und dennoch leugnen einige Menschen nach wie vor den Klimawandel. Während des Arabischen Frühlings sprachen im Silicon Valley viele von einer Twitter-Revolution, die den Menschen in diesen Ländern bald ein gutes Leben ermöglichen würde – die Realität sieht heute anders aus. Und auch Donald Trump und den Brexit konnte die Digitalisierung nicht verhindern.“

Aber warum? Alles zu teilen, macht alles besser, da alle davon profitieren – laut Lanier ist das grundsätzlich eine gute Idee, die allerdings eine Schwachstelle hat: „Meiner Meinung nach sind alle Menschen gleich. Jeder ist auf seine Art ein Genie. Aber das kann man nicht auf Computer übertragen. Computer sind nicht gleich. Wenn Unternehmen wie Facebook, Microsoft und Google Cloud-Computer nutzen, die so groß sind wie ganze Städte, dann haben sie dadurch einen Vorteil gegenüber normalen Menschen. Das führt zu einem Ungleichgewicht in der Verteilung von Wohlstand und Macht.“ In San Francisco lasse sich das ganz gut beobachten, den dort könnten nur noch Menschen leben, die viel Geld in der Computerindustrie verdienen. Alle anderen müssen wegziehen, weil sie sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten könnten.

“Die Unternehmen externalisieren die Risiken“

In einem Casino trägt nicht der Inhaber das Risiko sondern der Gast. Mit dieser Metapher verdeutlicht Lanier eines der Grundprobleme des digitalen Zeitalters: „Nehmen Sie zum Beispiel Uber. Der Service ist toll. Keine Frage. Das Problem sind die Risiken, die die Fahrer eingehen, die für Uber arbeiten. Sie haben deutlich weniger Rechte und Absicherungen als klassische Taxifahrer. Und so machen das viele Unternehmen. Sie sammeln und analysieren unsere Daten und schieben das Risiko nach draußen.“ Diese Strategie der Risikovermeidung sei ok, wenn nur ein Teil der Wirtschaft darauf basiere – wie etwa die Casino-Branche. Wenn aber die ganze Wirtschaft so funktioniere, sei das nicht nachhaltig.

Ein ebenfalls sehr interessantes Beispiel, mit dem Jaron Lanier dem Publikum im ZKM den Wert unserer Daten vor Augen führt, sind Übersetzungen. „Unternehmen wie Google und Microsoft können Übersetzungen in der Cloud durchführen. In Echtzeit. Ich kann ein Telefonat via Skype auf Englisch führen und am anderen Ende hört mich mein Gegenüber auf Deutsch. Das ist toll. Das Problem dabei: Google und Co. durchforsten das Internet tagtäglich nach Übersetzungen von echten Menschen, die dann über Statistiken und Algorithmen ausgewertet werden. Nur durch diese ‚gestohlenen‘ Daten können die Unternehmen überhaupt ihre Übersetzungsdienste anbieten. Diese Daten sind viel wichtiger als die Algorithmen. Das sagen wir den Menschen aber nicht. Wir bezahlen sie auch nicht dafür. Aber wir brauchen sie.“

“Werdet euch dem Wert eurer Daten bewusst und experimentiert“

Wenn man Lanier so zuhört, werden einem viele Dinge bewusst, über die man zuvor überhaupt nicht nachgedacht hat – oder nicht nachdenken wollte. Und genau darum geht es ihm. Lanier fordert schon seit einiger Zeit, dass wir uns dem Wert unserer Daten bewusst werden sollen und dass Unternehmen uns für diese bezahlen sollten.

Das klingt zunächst wie eine Utopie. Warum sollten Facebook und Google jedem einzelnen von uns Geld für etwas geben, das wir den Unternehmen schon seit Jahren tagtäglich kostenlos zur Verfügung stellen. Und überhaupt wäre es ein äußerst komplexes Unterfangen, den Wert persönlicher Daten zu berechnen. Auch die Frage nach einem passenden Bezahlsystem lässt sich nicht so einfach beantworten.

All das weiß natürlich auch Lanier. Deshalb lautet seine zentrale Forderung beim shareBW Kongress: „Verlasst jetzt nicht einfach Facebook sondern experimentiert. Fordert euch selbst heraus. Nutzt sechs Monate lang kein soziales Netzwerk und findet heraus, wie es sich auf euer Leben auswirkt, ob ihr euch besser oder schlechter fühlt. Werdet euch dem Wert eurer Daten bewusst und nutzt dieses Bewusstsein im Umgang mit dem Internet!“